Corona-Begleiterscheinung: Binge Watching & Serienjunkies aller Coleur
Binge Watching ist ein recht neues Phänomen. Fernsehserien gibt es zwar schon seit Jahrzehnten. (Zu den ersten zählen übrigens "Flipper" und "Lassie".) Allerdings konnte man sich davon immer nur eine einzige Folge pro Tag oder Woche ansehen. Heute verspüren Menschen aus irgendeinem Grund den unwiderstehlichen Drang, diese in einem Zug zu "suchten". Ganze Feierabende, Nächte, Wochenenden opfern sie für diese ziemlich unproduktive Tätigkeit – und das ist nur eine der vielen Parallelen zwischen anderen Süchten und Seriengucken.
Grundsätzlich kann fast alles beim Menschen zur Sucht werden: Alkohol und Rauschgift selbstverständlich, aber auch gute Dinge wie Essen oder Sex. Und für manche kann sogar die Arbeit zur Droge werden. Das Fernsehen stellt keine Ausnahme dar, zumal es sich hierbei noch um eine substanzungebundene Abhängigkeit handelt, die also leicht zu befriedigen und sozial nur begrenzt geächtet ist.
Medizinisch betrachtet wird zwanghaftes Medienverhalten noch nicht offiziell als krankhaft beschrieben - zumindest nicht nach den weltweit führenden Diagnosemanualen ICD-10 und DSM-V (Die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme ist das wichtigste, weltweit anerkannte Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen.)
Wie entstehen Süchte?
Aus Sicht der Psychologie macht es im Prinzip kaum einen Unterschied, wonach man süchtig wird. Auf den Kern heruntergebrochen ist alles am Ende eine Frage der operanten Konditionierung: Es geht um Stimuli und Reaktionen - und vor allem geht es ums Lernen. Uns wird ein Reiz präsentiert, er wirkt sich positiv auf unser Befinden aus und wir reagieren mit dem Versuch der Wiederholung des Reizes. Diesen Prozess nennt man Verstärkung. In die andere Richtung funktioniert das Ganze ebenfalls: Ein negativer Stimulus sorgt für Vermeidungsverhalten und im Extremfall für eine Phobie - quasi der Gegenpol einer Sucht.
Wann ist man seriensüchtig?
In der Tat diskutieren Psychologen seit einiger Zeit, ob es sich bei dem Binge-Watching-Phänomen um eine echte Sucht handelt. In ihren Verhaltensmustern ähneln manche Serienjunkies ein wenig Abhängigkeitserkrankten: Sie vernachlässigen ihre Pflichten und ihr soziales Umfeld, sie verlieren das Interesse an anderen Hobbies, sie haben das Gefühl, "es nicht lassen zu können" und fühlen sich nach dem Konsum schuldig.
Von körperlicher Abhängigkeit kann hier aber nicht die Rede sein wie bei Alkohol- oder Drogenabhängigkeit. Psychologen vermuten, dass es für den "Suchtfaktor" vieler Serien einen ganz anderen Grund gibt: Sie befriedigen das zutiefst menschliche Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit. Für 20 bis 45 Minuten darf sich der Zuschauer im Kreise einer fiktiven Clique oder Familie geborgen fühlen – ohne sich dafür verstellen oder anstrengen zu müssen. "Sozialersatz-Hypothese", nennen Sozialpsychologen diese Idee. Ausreichend belegt ist sie bisher noch nicht. Es gibt aber einige Studien, die daraufhin deuten, dass Menschen sich eher zu einem Serienmarathon hinreißen lassen, wenn sie sich einsam und deprimiert fühlen.
Leidensdruck ja oder nein?
Um die Frage nach der eigenen Seriensucht zu beantworten, bedarf es keiner Statistiken und Zahlen, es ist vielmehr eine Frage des individuellen Leidensdrucks. Gedanken machen sollte man sich, wenn ein Serienentzug Gefühle des Unwohlseins oder der Aggressivität auslöst. Außerdem sollte man streng beobachten, aus welchem Grund man den Fernseher einschaltet: Will man wirklich etwas ganz Bestimmtes sehen oder guckt man nur, um Zeit totzuschlagen - oder schlimmer noch: Um Gefühle der Einsamkeit und Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben zu verdrängen?
Serienkonsum sollte bestenfalls nicht auf Eskapismus beruhen - lieber, man fühlt sich von einer fiktiven Welt angezogen als von der realen abgestoßen (weil man deprimiert und einsam ist, braucht man etwas zur Ablenkung).
Natürlich spricht nichts dagegen, nach einem anstrengenden Arbeitstag nach Hause zu kommen, sich aufs Sofa zu legen und bei der persönlichen Lieblingsserie zu entspannen. Doch sobald das Ganze zum automatischen Reflex wird, sollte man aufpassen. In seltenen Fällen kann eine Seriensucht sogar auf schwerwiegende psychische Probleme wie eine Depression oder soziale Angststörung hindeuten (Binge Watching als Folge / Kompensationsstrategie eine psychischen Erkrankung). Wer glaubt, davon betroffen sein zu können, der sollte nicht zögern, einen Therapeuten aufzusuchen, denn das Fernsehen wird die Krankheit ganz bestimmt nicht heilen.
Doch auch diejenigen, die einfach nur aus Gewohnheit in die Seriensucht rutschen, sollten ihre Lebensweise vielleicht hinterfragen. Wie gesagt, können Richtwerte unmöglich darüber entscheiden, wer zu viel Fernsehen guckt und wer nicht. Am besten ist es daher, eine eigene Rechnung aufzustellen. Nimmt man zum Beispiel an, dass ein durchschnittlicher Serienjunkie - vorsichtig geschätzt - bis zu drei Stunden am Tag vor dem Fernseher sitzt, so kommen auf das Jahr hochgerechnet bereits anderthalb Monate zusammen. Berechnet man zusätzlich vier Monate Schlafenszeit mit ein, bleibt nur noch knapp ein halbes Jahr gelebtes Leben - und davon gehen noch einmal vier Monate für die Arbeit drauf.
Paradox: Zum Stressabbau sind Serien nicht ideal!
Nach einem nervenzehrenden Arbeitstag wünscht man sich zuweilen nichts sehnlicher, als sich mit einer Serie berieseln zu lassen. Zu echter Entspannung verhilft das aber nicht. Zum Stressabbau benötigen Körper und Geist vor allem Bewegung – erst recht, wenn man eh bereits den ganzen Tag am Schreibtisch gesessen hat.
Außerdem birgt die Realitätsflucht natürlich auch ein Risiko. Wer sich in einsamen Momenten gleich Trost bei seinen Bildschirm-Freunden sucht, besiegelt seine soziale Isolation, weil er anderen Menschen überhaupt nicht die Chance gibt, mit ihm in Kontakt zu kommen. Wer sich ständig in eine Parallelwelt flüchtet, kann seine realen Probleme nicht lösen.
Übrigens legt eine Studie niederländischer und deutscher Forscher nahe, dass es gestressten Menschen, die ihren Beruf als sehr belastend empfinden, besonders schwerfällt, beim Fernsehen zu entspannen. Sie tendieren offenbar dazu, sich beim Fernsehen schuldig zu fühlen und dieses eher als Prokrastination ("Aufschieberitis") wahrzunehmen. Die erhoffte, erholsame Wirkung scheint hingegen vor allem jenen vorbehalten zu sein, die ihren Alltag als weniger belastend empfinden, die Erholung also eigentlich gar nicht so nötig haben.
Wie bekämpft man seine Seriensucht?
Wer nun also meint, seinen Serienkonsum reduzieren zu müssen - unabhängig davon, ob man sich tatsächlich für süchtig hält oder nicht -, dem könnten eventuell die folgenden Tipps behilflich sein:
- (1) Sich einen Überblick vom eigenen Serienkonsum verschaffen und die verlorenen Stunden auf das gesamte Jahr hochrechnen.
- (2) Einen gründlich durchdachten Plan aufstellen, welche Serien man wirklich sehen will und die restlichen gnadenlos aussortieren.
- (3) Bequemlichkeit abbauen, indem man zum Beispiel die Fernbedienung wegschmeißt, sodass man zumindest nicht mehr sinnlos umherzappt.
- (4) Ganz wichtig: Gesündere Ersatzdrogen (sogenannte Substitute) suchen.
- (5) Das Fernsehen nicht länger als Berieselung für andere Tätigkeiten nebenbei verwenden. Dann lieber zum unverbindlichen Radio oder auf Podcasts umschalten.
Wenn Du daran lieber mit einem Profi arbeiten möchtest, wende Dich gern an uns. Hier gehts zur Terminabsprache.
Quelle: @Neue Narrative